Literaturnobelpreis 1945: Gabriela Mistral

Literaturnobelpreis 1945: Gabriela Mistral
Literaturnobelpreis 1945: Gabriela Mistral
 
Die chilenische Dichterin erhielt den Nobelpreis für ihre Poesie, »die ihren Namen zum Symbol des idealistischen Strebens der lateinamerikanischen Welt gemacht hat«.
 
 
Gabriela Mistral, eigentlich Lucila Godoy Alacayaga, * Vicuña (Chile) 7. 4. 1889, ✝ Hampstead (New York) 10. 1. 1957, Lehrerin und Diplomatin; 1912 Eintritt in den Schuldienst und erste Veröffentlichungen von Gedichten; 1924 als bereits erfolgreiche Dichterin und Pädagogin Reisen in mehrere lateinamerikanische Länder; ab 1932 als Diplomatin in Italien, Spanien, Portugal Brasilien, Mexiko und den USA.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In einem Teilkontinent wie Südamerika, wo normalerweise nur die Männer reden und schreiben, war es eine außerordentliche Leistung, dass sich eine Frau in der Literatur behauptete. Als Gabriela Mistral im Jahr 1945 den Nobelpreis erhielt, rief dies natürlich große Begeisterung in ihrem Land hervor.
 
Zudem war es das erste Mal, dass einem lateinamerikanischen Schriftsteller diese Ehrung zuteil wurde. Nach der Bekanntgabe der Entscheidung vertraute sie den Journalisten an: »Es ist die Neue Welt, die durch mich ausgezeichnet wurde, nicht ich habe gesiegt, sondern Amerika.« Und tatsächlich liegt die Vermutung nahe, dass die Schwedische Akademie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Blick auf einen Teil der Welt lenken wollte, der nicht in diesen Konflikt verstrickt gewesen war.
 
Die Jury würdigte Mistral mit der Begründung, ihre von kraftvollen Gefühlen inspirierte Poesie habe den Namen Mistral zum Symbol des idealistischen Strebens der ganzen lateinamerikanischen Welt gemacht.
 
Bei aller Genugtuung über die Preisverleihung an Mistral wurden in Chile jedoch auch Stimmen laut, ihre Landsmänner Vicente Huidobro und Pablo Neruda hätten den Preis eher verdient. Längst ist die Auseinandersetzung hierüber verstummt. Neruda wurde 1972 ausgezeichnet und Huidobro ist als einer der avantgardistischsten Schriftsteller der spanischen Sprache anerkannt.
 
 Gabriela Mistral und ihre Poesie
 
Gabriela Mistral ist das Pseudonym der 1889 in Vicuña, Nordchile, geborenen Schriftstellerin Lucila Godoy Alcayaga. Mit 17 Jahren bereits Lehrerin, lernte sie 1906 den Bahnangestellten Romelio Ureta kennen und lieben.
 
Dieser junge Mann, in dem sie die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben glaubte, verließ sie wegen einer anderen Frau und brachte sich drei Jahre später aus Scham über einen Bagatelldiebstahl um. Ihm widmete sie ihre berühmten »Sonetos de la muerte« (spanisch; Todessonette), die sie als Dichterin bekannt machten, und seither begann die Autorin, ihr Pseudonym zu benutzen. Vermutlich wollte sie mit dem Künstlernamen ihre Bewunderung für die Schritsteller Gabriele D'Annunzio und Frédéric Mistral zum Ausdruck bringen.
 
1922 erscheint in den USA, unter der Schirmherrschaft des hispanischen Instituts der Columbia University, ihr erster Gedichtband mit dem Titel »Desolación« (spanisch; Trostlosigkeit). Dieses Buch enthält neben dem bekannten Gedicht »Decálogo del Artista« (spanisch; Die Gebote der Künstler) einige Gedichte, die für immer der lateinamerikanischen Literatur erhalten bleiben sollten wie: »La maestra rural« (spanisch; Die Landschullehrerin), »El ruego« (spanisch; Die Fürbitte) und die nicht weniger bekannten »Sonetos de la muerte«.
 
 Vertreterin des Modernismus
 
Gabriela Mistral gilt als Vertreterin des Modernismus, einer literarischen Bewegung, die in Lateinamerika und Spanien gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den Naturalismus, den Symbolismus und die Dichtergruppe der Parnassiens entstand. Er lehnte das Vulgäre ab und propagierte eine poetische Erneuerung durch eine rein ästhetisch bestimmte Kunst des »L'art pour l'art«. Der Modernismus von Mistral ist jedoch nicht der seines nicaraguanischen Begründers Rubén Darío, eines der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung. Mistral schreibt nicht wie er von der Exotik weit entfernter Orte, sondern bedient sich der Ästhetik und Musikalität des Modernismus, um über das tägliche Leben zu schreiben.
 
Im Jahr 1924 wird in Madrid Mistrals zweiter Gedichtband »Ternura« (spanisch; Zärtlichkeit) mit Gedichten und Kinderliedern veröffentlicht. In »Tala« (spanisch; Holzschlag; 1938) zeigt die Dichterin den Kindern die Elemente der Natur: Luft, Licht, Wasser, aber auch die Produkte menschlicher Arbeit wie Weizen und Brot. Sie bringt die Kinder mit Vergangenheit und Gegenwart Lateinamerikas in Beziehung. Den Erlös aus dieser Publikation stiftete sie zugunsten der Waisenkinder des Spanischen Bürgerkriegs. Diese den Kindern gewidmete Poesie erreichte innerhalb ihres Gesamtwerks die größte Popularität. Kritiker halten jedoch die Verse jener Poesien, in denen sie eigene tief gehende Erfahrungen verarbeitete und die immer wieder von Tod und Leid handeln, für ausdrucksstärker.
 
Mistrals letztes Buch »Lagar« (spanisch; Kelter) erschien 1954 in Santiago de Chile. In diesem Werk nehmen Gott, Leben und Tod einen wichtigen Platz ein. Von Gott spricht Mistral in vielen ihrer Texte, und ihr Gottesbild ist durchaus gegensätzlich. Denn in ihren Werken begegnet man sowohl dem gestrengen Gott der Rache als auch Gott als sanftem Freund von Maria und Lazarus. Gelegentlich nimmt das Anrufen der Gottheit auch pathetische Töne an, wie in ihrem Gedicht »Nocturno« (spanisch; Nachtstück):
 
»Vater, der Du bist in den Himmeln —
 
warum hast du mich vergessen!
 
Du erinnerst Dich der Frucht im Februar,
 
da sie ihr Fleisch, das rubinrote, aufriss.
 
So offen ist mir die Seite,
 
und Du willst sie nicht sehen!«
 
Neben den genannten Elementen klingt in ihrem Werk immer wieder eine gewisse Enttäuschung durch, die wohl auf ihre Einsamkeit als Frau und die nicht verwirklichte Mutterrolle zurückzuführen ist.
 
 Die letzte Reise nach Chile
 
Seit 1932 arbeitete Mistral im diplomatischen Dienst ihres Landes und war als Generalkonsulin in verschiedenen Staaten für Chile tätig. Zum Ende ihrer Laufbahn war sie Vertreterin Chiles bei den Vereinten Nationen in New York.
 
Ihr letzter Besuch in Chile fand im Jahr 1954 statt. Der Empfang für die Frau, die in ihrer Heimat auch wegen ihres karitativen Einsatzes beinahe als Heilige verehrt wurde, war überwältigend. Die Straßen Santiagos waren voller Bewunderer, die ihre Freude enthusiastisch ausdrückten.
 
Auf Einladung des Präsidenten hielt sie eine für alle unerwartete Ansprache, die nur als unverhohlene Kritik an der Regierung zu verstehen war. Ein Zeitzeuge erinnert sich: »Sie sprach von schutzlosen Kindern, armen Bauern, beglückwünschte die Regierung zur Durchführung der Agrarreform, die jedoch gar nicht existierte. Die Minister wurden rot, der Präsident lächelte verwirrt, die Leute stießen sich mit den Ellbogen an und trauten ihren Ohren kaum. Aber Gabriela Mistral fuhr unerbittlich fort. ..«.
 
Gabriela Mistral starb 1957 in den USA. Über ihren Tod hinaus bewegen noch heute vor allem ihre Todes-Sonette den Leser:
 
»Aus der eiskalten Gruft, in die sie dich gelegt, werde ich dich in die sonnenwarme, schlichte Erde senken.
 
Die Menschen ahnten nicht, dass ich mit dir im gleichen Gelass träumen sollte, auf den gleichen Kissen.
 
In die sonnenwarme Erde werde ich dich betten, zärtlich wie eine Mutter ihren schlafenden Sohn.
 
Sanft wird die Erde dich wiegen, wenn sie deinen Leib empfängt, den wunden eines Kindes. ..«
 
N. Martos Pilgrim

Universal-Lexikon. 2012.

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